Wulff gewählt. Jurga gratuliert: “Tun Sie es nicht!”
Betreff: Glückwunschschreiben
Von: Jurga
Datum: 30.06.2010
Zeit: 21:20
An: poststelle@bpra.bund.de
Sehr geehrter Herr Wulff,
hiermit gratuliere ich Ihnen herzlich zur Wahl als deutsches Staatsoberhaupt!
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Amtsführung, viel Glück und Gottes Segen!
Wobei ich mit Gottes Segen wirklich den Segen Gottes meine und selbstverständlich nicht den Segen evangelikaler Fundamentalistengruppen, die im Namen des Herrn gegen Geschiedene, Homosexuelle und m.E. letztlich gegen die Menschlichkeit schlechthin zu Felde ziehen.
Ich weiß nicht, welcher wilde Teufel Sie geritten haben mag, sich mit Organisationen wie „Pro Christ“ oder dem „Arbeitskreis Christlicher Publizisten“ (ACP) einzulassen. Ich vermute, dass diese Fehlgriffe auf Ihr bewährtes Flechten von Netzwerken zurückzuführen ist.
Ich jedenfalls kaufe Ihnen diese Nummer mit den verrückten Bibeltreuen nicht ab und bin sicher, dass Sie keinerlei grundsätzliche Zweifel an Darwins Evolutionstheorie hegen. Deshalb möchte ich Ihnen vorschlagen, wenn ich mir den gutgemeinten Rat erlauben darf, sehr geehrter Herr Bundespräsident, diese beiden obskuren Sekten zu verlassen.
Ich bin sicher, dass Sie dies schon in Kürze tun und bekannt geben werden. Und ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass Sie das Zeug dazu haben, das Ihnen anvertraute Amt auf eine angemessene, korrekte und würdige Art und Weise auszufüllen. Deshalb habe ich mich sogar ein wenig gefreut, dass die Bundesversammlung Sie gewählt hat.
Hier muss ich zur Erläuterung anmerken, dass ich Sozialdemokrat bin. Insofern können Sie gewiss verstehen, dass es mir keineswegs unrecht gewesen ist, dass Sie nicht – wie erwartet – gleich im ersten Wahlgang das Rennen gemacht haben, sondern dass es etwas spannender verlaufen ist.
Dies hat Sie gewiss ein paar Nerven gekostet, jedoch den Start in Ihre neue Aufgabe nicht im geringsten belastet. Dagegen hatte die Frau Bundeskanzlerin gelackmeiert ausgesehen und die Spannungen innerhalb der Regierungskoalition neue Nahrung erhalten.
Da bitte ich Sie um Verständnis, sehr geehrter Herr Bundespräsident! Das hat mich gefreut. Ich ahne, was die Presse über Frau Merkel schreiben wird. Aber ich weiß, all dies ist ziemlich unerheblich; denn bis zu den nächsten Bundestagswahlen ist es noch eine ganze Weile hin.
Selbst wenn die Wahl nicht auf Sie, sondern auf Ihren Konkurrenten gefallen wäre, hätte sich daran nichts geändert. Aber – da sind wir uns vermutlich einig: das wäre schon ein kräftiger Schlag ins Kontor der Kanzlerin gewesen! Allerdings um den Preis, dass dann Herr Gauck der Bundespräsident wäre.
Insofern, sehr geehrter Herr Wulff, können Sie gewiss sein, dass meine Gratulation wirklich von Herzen kommt. Und ganz persönlich freue ich mich natürlich auch, dass der Schirmherr der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) nun auch der Bundespräsident ist.
Es ist ein Novum, dass, wie Sie es formuliert haben, ein „Vertreter der mittleren Generation“ das höchste Staatsamt bekleidet. Ich bin übrigens im Grunde genauso alt wie Sie. Vielleicht finde ich aus diesem Grund, dass dies nichts Schlechtes sein muss.
Ich frage mich nur, wie es nach Ablauf Ihrer Amtszeit mit Ihnen weitergehen soll. Sie werden dann 56 Jahre alt sein, und selbst wenn – was ich beim gegenwärtigen Stand der Dinge für ausgeschlossen halte – Sie noch eine zweite Amtszeit absolvieren könnten, danach also 61 wären: ist das nicht ein bisschen früh für den Ruhestand?
Okay, 200 Mille pro Jahr bis zum Ende, aber trotzdem. Ich frage mich das halt. Mich, nicht etwa Sie, das verbietet der Respekt vor dem Hohen Amt. Es ist ja auch noch etwas hin bis 2015.
Jetzt bin ich zunächst einmal sehr neugierig, welche Akzente Sie im Schloss Bellevue setzen werden. Ich habe gelesen, Sie wollten "Sprachrohr" der Politikverdrossenen sein. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Sehen Sie mir bitte noch diesen einen ungebetenen Ratschlag nach! Tun Sie es nicht!
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Werner Jurga