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Mehr Sekundärtugend wagen

Warum das neue Führungspersonal der SPD die Wähler nur mit einer neuen bürgerlichen Kultur von linken Werten überzeugen kann.

Man merkt, dass man wirklich erwachsen ist, wenn man sich noch an Oskar Lafontaines Angriff gegen Helmut Schmidt erinnert: „Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. […] Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.“ Und wenn man, jetzt kommt der entscheidende Punkt, wenn man keine Sekunde daran zweifelt, auf der Seite von Helmut Schmidt zu stehen.

In der linken politischen Szene war es nach 1968 in Mode, das vermeintlich authentisch Wahre und Gute, also beispielsweise Solidarität und Menschlichkeit, in den Vordergrund zu stellen und das vermeintlich verstaubte äußerliche Drumherum als materialistisch, verlogen und amoralisch zu verachten. Der sprunghafte Linke und der verlässliche Krisenmanager symbolisierten geradezu perfekt, wie in der SPD mit einer neuen Generation auch ein neuer Politikertypus Einzug hielt. Auf die 68er, zu denen auch ein Gerhard Schröder gehörte, folgten die geburtenstarken Jahrgänge („Baby Boomers“) wie Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, Hannelore Kraft oder Martin Schulz, die zwar nicht mehr diese eine unbedingte Mission mit aller Härte verfolgten; politisch haben sie nämlich nicht allzu viel hinterlassen. Dafür traten sie aber gerne mit der arroganten Selbstgewissheit auf, immer und überall in der Mehrheit zu sein und deshalb alles Nachwachsende über Jahrzehnte hinweg mit Bauernschläue und Verweis auf vermeintliche Sachzwänge (welche in Wahrheit oftmals die eigene Ideenlosigkeit überspielten) kaputttrampeln, übertönen und überstimmen zu können.

Die Jahrgänge nach dem Pillenknick waren demografisch in der Minderheit, sie gingen auch seltener zur Wahl, traten seltener in Parteien und schon gar nicht in die SPD ein. Also musste man weder ihre Interessen vertreten noch ihnen verantwortungsvollere Aufgaben anvertrauen, als Plakate zu kleben. Erwünschter Effekt: Sie wandten sich noch mehr von der SPD ab, und man blieb weiter unter sich und wurde in seinen Kreisen nicht gestört. Gute Ergebnisse bei der Bundestagswahl wurden ebenso unwichtig für die SPD wie konkrete Inhalte; denn in jeder Großen Koalition kamen die Eliten der SPD auf ihre Kosten und konnten sich untereinander die Posten zuschanzen. Diese Eigenlogik fand ihren traurigen Höhepunkt darin, wie die SPD trotz ihrer erdrutschartigen Wahlniederlage der CDU bei den Koalitionsverhandlungen mit List und Drohung das Finanzministerium entriss, wie Martin Schulz versuchte, im Alleingang aus dem Außenministerium zu verdrängen und wie Andrea Nahles auf dem kleinen Dienstweg der Parteivorsitz zugeschustert wurde. Die SPD-Granden übernahmen ebenso wie Investment Banker für die Bankenkrise und die Autobosse für den Dieselskandal keinerlei Verantwortung für das von ihnen verschuldete miese Wahlergebnis, sondern feierten sich selbst und belohnten sich erst mal mit einem besonders großen Schluck aus der Pulle, obwohl ihre eigene Existenzgrundlage doch eigentlich von Einschlag zu Einschlag stärker bedroht ist. Nach uns die Sintflut!

Dumm nur, dass die Parteibonzen diesmal den Bogen überspannt hatten. Weil sie Werte wie Respekt und Anstand in ihrer ganzen Herablassung gar nicht mehr glaubten, nötig zu haben, ist die hässliche Fratze nun sichtbar wie nie zuvor an die Öffentlichkeit gelangt. Wähler und Parteimitglieder fühlen sich von Postengeilheit, Intrigantentum und Kleingeist zunehmend abgestoßen. Ebenso unangenehm fiel der notorische Unernst in den Auftritten von Andrea Nahles auf, die in den vergangenen Monaten das sprachliche Niveau mit „in die Fresse“, „Bätschi“, „bis es quietscht“ auf die Lallbackenmarke absenkte und jüngst mit Clownsmaskerade ein Fernsehinterview gab. Ist das die vulkaneifelige „Leidenschaft“, die ihr von ihren Anhängern attestiert wird? Leidenschaft in der Sache erfordert Ernsthaftigkeit; Nahles‘ Kaspereien führen aber in der Wahrnehmung des Publikums dazu, dass ihre Aussagen ironisch gebrochen werden. Das kommt nicht allzu gut an, wenn man erwartet, dass die eigenen politischen Anliegen ohne doppelten Boden und doppelte Zunge vertreten werden. Zudem wirkt es unseriös; wie soll man der Leitungsebene einer Volkspartei ihren Fach- und Sachverstand abnehmen, wenn sie sich so lächerlich aufführt wie Silvio Berlusconi oder Beppe Grillo? Die toxischen Wirkungen von Testosteron und Östrogen nehmen sich offensichtlich nicht so viel. Auch die vermeintliche Lockerheit und Lässigkeit ist nur hohle Fassade, wenn man sich vor Augen führt, welch verbissene Karrieristen hinter den Kodderschnauzen in Wahrheit stecken, für die die Devise „Feind – Todfeind – Parteifreund“ gilt.

Nicht gerechnet hat man mit einem Kevin Kühnert, der neben einem linken SPD-Programm mit unter 30 die Sekundärtugenden par excellence verkörpert, die die anderen nicht nötig zu haben glaubten. Er eifert nicht, er greift niemanden persönlich an, agiert stattdessen ausgesucht höflich und sachlich und erklärt rhetorisch vollendet seine Inhalte. Wer die Generation Y deshalb für zu angepasst hält, der irrt. Der Nachwuchs kann sich nämlich nicht auf seine eigene Altersgruppe verlassen; er muss vielmehr ein breites Publikum überzeugen, was ihm nur gelingt, wenn er seine persönliche Integrität keinen Zweifeln aussetzt. Die vermeintliche Schwäche, fehlende Aggressivität, wird so zur großen Stärke; plötzlich wird ein Linkssozi sogar von strammen Konservativen respektiert statt belächelt. Von dieser sympathischen Haltung braucht die SPD mehr, wenn sie ihren eigenen Untergang verhindern und wieder breite politische Mehrheiten gewinnen will. Der Wähler wird am Ende nicht für die stimmen, die von sich behaupten, dass sie die Primärtugenden Solidarität und Menschlichkeit vertreten, sondern für die, die in seinen Augen Solidarität und Menschlichkeit wirklich durch ihr Verhalten verkörpern. Und menschlich und solidarisch können nur die sein, die nicht nur auf ihren kurzfristigen eigenen Vorteil geiern, sondern sich als leuchtende Vorbilder an die demokratischen Spielregeln halten und diszipliniert und professionell die Klaviatur der Sekundärtugenden beherrschen.

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