Der Schulzzug hat ausgelindnert
Warum die deutschen Wähler den Koalitions-Krampf und die Neuauflage der Großen Koalition letztlich alternativlos gemacht haben.
Ich gebe es gerne zu, ich gehörte zu denen, die fest an das Projekt Jamaika-Koalition glaubten. Sicherlich habe ich eine politische Überzeugung, in der sich die FDP noch nie wiederfand, weshalb ich es Jürgen Trittin bis heute nicht verziehen habe, dass er 2013 Schwarz-Grün platzen ließ. Doch nach dem überraschend gelungenen Koalitionsvertrag in Schleswig-Holstein dachte ich, wenn das Beste aus jeder Partei umgesetzt wird und sich die Partner gegenseitig ihre Erfolge gönnen, dann werden das vier spannende Jahre, die nach dem Mehltau der GroKo endlich wieder frischen Wind in unser Land bringen. Gut, das Soziale bleibt eher auf der Strecke – aber man kann eben nicht alles auf einmal haben.
Nach allem, was mittlerweile an Protokollen an die Öffentlichkeit gelangt ist, zeichnet sich ein ziemlich klares Bild ab: Während sich Unionsparteien und Grüne trotz regelmäßig wiederkehrender Gereiztheiten zusehends inhaltlich annäherten, wenn auch sicher die Teilnahme von Alexander Dobrindt und Jürgen Trittin der Gesprächsatmosphäre wenig zuträglich war und die Grünen sich mit ihrer manischen Fixierung auf den Familiennachzug bei subsidiärem Schutzstatus (sag das zehn mal hintereinander – oh mein Gott, welch ein Zungenbrecher) etwas verrannt haben, bekam die FDP zunehmend Panik, dass das Bündnis mit den ungeliebten Grünen wider Erwarten tatsächlich zu Stande kommen könnte. Also zog sie die Reißleine und inszenierte einen von seiner Werbeagentur bereits sorgfältig vorbereiteten Auftritt in den sozialen Medien, in dem er sich als Fels in der Brandung nach dem Motto „lieber nicht regieren als schlecht regieren“ darstellte.
Für die Stabilität und Regierungsfähigkeit des deutschen Parteiensystems war dies ein schwarzer Sonntag; und es ist Lindner vorzuwerfen, dass ihm populistische Gewinne wichtiger waren, als seine Politik in Regierungsverantwortung umzusetzen. Aus German Mut wurde German Angst, und das versprochene Update für Deutschland hat sich in der Beta-Version aufgehängt. Nachdem die FDP kurz vorher bereits eine Koalition mit der SPD in Niedersachsen ausgeschlossen hatte, hat er sich nunmehr auf absehbare Zeit als Staatsmann disqualifiziert. Denn damit die ach so standhafte FDP überhaupt eine Oppositionsrolle übernehmen kann, muss ja jemand anders für sie die Kohlen aus dem Feuer holen und regieren, dem dann nach seiner Lesart im Gegensatz zu ihm zwangsläufig dieses Rückgrat fehlen muss. Wer dem Personenkult um den Startup-Politiker Lindner huldigt, mag ihn für seine Show bewundern – der Mittelstand, dessen Interessen die FDP nun vier Jahre lang nicht vertreten wird, dürfte dies anders sehen. Die Klientel- und Wirtschaftspartei hat sich inzwischen zu einem autoritären Personenkult um den selbstverliebten Christian Lindner entwickelt und ist, in der Programmatik vergleichbar mit den Europaskeptikern Sebastian Kurz und Bernd Lucke, deutlich nach rechts gedriftet.
Die SPD hatte ihr schlechtes Wahlergebnis meiner Meinung nach völlig zu Recht dahin gehend interpretiert, dass eine GroKo nicht der erste Wählerwunsch sei und daher sich zunächst einmal CDU/CSU, FDP und Grüne an einer Regierungsbildung versuchen müssten. Sicher wäre es dann eine Chance gewesen – wenn auch eine, die die SPD schon einmal 2009-13 ungenutzt verstreichen ließ -, sich von ihrer Durchdringung mit neoliberalen Inhalten aus der Schröder-Ära zu befreien und in der Opposition wieder einen echten sozialdemokratischen bis sozialistischen Markenkern à la Jeremy Corbyn oder Bernie Sanders zu entwickeln. Die Agenda 2010, die sich die SPD leider bis heute als Befreiungsschlag für die Wirtschaft schön redet, hat sehr viele Stammwähler dauerhaft verprellt; und der zaghafte gesetzliche Mindestlohn kann nicht annähernd als ein später Ausgleich für diesen Sündenfall verstanden werden.
Doch nun kommt der SPD die Realität dazwischen: Der Bundespräsident sowie Teile der Presse, der Öffentlichkeit und der eigenen Partei wollen ihr nicht gönnen, vier Jahre lang ihre Wunden zu lecken, sondern rufen sie zur Verantwortung. Es hat zweifellos eine bittere Pointe, wenn ausgerechnet die so brutal vom Wähler abgestrafte SPD sich sagen lassen muss, sie sei vom Wähler gerufen worden, um weiter den Juniorpart zu übernehmen, der ihr in der letzten Legislaturperiode so schlecht bekommen ist. Doch es nützt nichts, das Land muss regiert werden; wer sich in den Bundestag wählen lässt, ist Volksvertreter und nicht bloß Parteifunktionär. Wer das ignoriert, stärkt die Ränder – und die SPD ist doch auf ihre antifaschistische Tradition so stolz, die 1933 ihren Höhepunkt erreichte, als sie gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmte.
Freilich ist es sehr umstritten, ob die SPD sich darauf einlassen soll oder damit nicht ihr eigenes Grab schaufeln würde. Doch wenn man vom Ende her denkt und verantwortungsethisch statt gesinnungsethisch an die Sache rangeht, sind die Alternativen unrealistisch oder zumindest wenig verlockend. Eine Minderheitsregierung wäre sozusagen immer auf externe Beatmung angewiesen und hätte nicht die Gestaltungskraft, um in Europa und der Welt als Stabilitätsanker zu wirken. Spätestens wenn FDP und Grüne gemeinsam einen gemeinsamen Bundeshaushalt aufstellen sollen, fällt das Kartenhaus in sich zusammen. SPD-CDU-Grüne zusammen würden ebenfalls keinen Sinn ergeben, denn die Grünen wären dann das fünfte Rad am Wagen, das man für parlamentarische Mehrheiten eigentlich nicht braucht.
Auch Neuwahlen dürften nicht weiterhelfen. Möglicherweise ändert sich nichts Großartiges; dann hat man viele Monate verloren und muss dennoch eine GroKo schmieden. Schwarz-Gelb würde die soziale Kluft im Land weiter vergrößern – wenn die CDU sich überhaupt in so kurzer Zeit wieder auf die unsicheren Kantonisten einlässt, und dann wahrscheinlich ohne Merkel. Schwarz-Grün wäre eine interessante Variante – aber die Mehrheit muss auch erst mal erreicht werden. Rot-Rot-Grün wurde bislang von SPD und Linken systematisch hintertrieben – dass sich an der beiderseitigen Verweigerungshaltung binnen wenigen Monaten etwas ändert, dürfte unwahrscheinlich sein. Wer Neuwahlen fordert, sollte sich immer dessen bewusst sein, welchen immensen und möglicherweise vergeblichen Kraftakt diese für alle Parteien bedeuten würden. Alleine die traumatische Erinnerung an die Büttenreden von 1983 dürfte manchen Genossen davon abschrecken, in der Karnevalszeit einen Wahlkampf führen und sich erneut von der FDP den Karneval verderben lassen zu wollen.
Auch wenn gerade das Herz der Jusos sich einen linken Regierungswechsel erträumt, spricht somit die Vernunft für eine Große Koalition. Die letzte war zwar mitunter etwas langweilig, aber der Wirtschaft ging es in dieser Zeit ja nicht schlecht, und während anderswo die Trumps und Putins, die Erdogans und die Separatisten tobten, war Deutschland ein Bollwerk außenpolitischer Stabilität. Die SPD sollte nur klarer ihren Markenkern herausarbeiten, indem sie ein richtiges sozialdemokratisches Programm ausarbeitet und klare Prioritäten setzt und ihre Aufmerksamkeitsökonomie endlich von den Nebenschauplätzen abzieht. Also weniger sich mit allgemeinem Europa- und Gerechtigkeitsgeschwurbel à la Martin Schulz und softer Political Correctness à la Heiko Maas verzetteln, dafür ebenso beherzt wie konkret den Pflegenotstand, die Wohnungsnot, die durch Riester selbst verschuldete Rentenlücke, die befristeten Arbeitsverträge anpacken und das auch dem Volk kommunizieren. Die Chancen, dass die Union ihnen einige Projekte gönnt, stehen ja aufgrund deren Zwangslage gut. Ich kann auch nicht die verstehen, die unbedingt wollen, dass Merkel abgelöst wird. Wer von Format könnte ihr denn in der CDU folgen? Und wäre ein Rechtsruck des Koalitionspartners etwa mit Jens Spahn das, was die Koalition einfacher machen würde?
Was die SPD endlich wieder benötigt, ist überzeugendes Personal. Martin Schulz ist ein netter Kerl, aber nett ist die kleine Schwester von…Ihr wisst schon. Das SPIEGEL-Protokoll seines Wahlkampfs gibt dem Leser die Antwort, warum Schulz Mitleid verdient hat, aber nicht Kanzler wurde und nie werden wird. Sigmar Gabriel, als Parteichef sprunghaft und glücklos, hat als Außenminister seine ideale Rolle gefunden, indem er die diplomatischen Regeln einhält und gleichzeitig so Tacheles redet, wie die Weltbühne es derzeit braucht. Andrea Nahles ist ein Politprofi, wie er im Buche steht, und hat eine weitere Legislaturperiode verdient, um noch deutlichere Akzente im Bereich Arbeit und Soziales zu setzen. Olaf Scholz, der zu Nahles einen sehr guten Draht pflegt, kann ich mir gut als Parteivorsitzenden vorstellen; er wird häufig als konservativer Seeheimer wahrgenommen, beweist aber als Erster Bürgermeister in Hamburg erfolgreich, wie soziale Wohnungsbaupolitik geht. Ich mag seine Vernunft und Klarheit ebenso wie seine Führungsstärke; bei ihm geht Qualität vor Quantität: ein überschaubares Portfolio an Versprechungen, aber dafür wichtige Themen und 100 % Verlass, dass er sie einlöst. Die SPD sollte aber nicht nur ihre Altvorderen mit Posten versorgen; viel wichtiger ist, dass ein profilierter Gesundheitspolitiker wie Karl Lauterbach oder ein Anti-Lobbyist mit Rückgrat wie Marco Bülow endlich zum Zuge kommen – sie haben es verdient!
Keine Frage: Wesen Herz an der Sozialpolitik hängt, dem muss es bluten, dass hier über Koalitionen von Parteien verhandelt wird, die bisher durch Umverteilungen von unten nach oben oder allenfalls innerhalb der Mittelschicht aufgefallen sind, aber nicht von oben nach unten. Nur muss man sich im Klaren sein, dass genau das gewählt wurde. 2013 hätte Rot-Rot-Grün eine Mehrheit gehabt, die SPD hat’s verbaselt. 2017 ist eine Mehrheit rechts der Mitte entstanden, die nur deshalb nicht in eine Koalition mündet, weil Merkel dankenswerterweise in aller Konsequenz jegliche Zusammenarbeit mit der fremdenfeindlichen AfD ablehnt. Wer eine Palastrevolution will, muss halt Palastrevolution wählen, so einfach ist das!
Schauen wir uns doch mal die Wahlergebnisse im nördlichen Ruhrgebiet an: Die Menschen dort fühlen sich zu Recht sozial abgehängt, und was tun sie? Viele gehen nicht zur Wahl. Dafür gibt es keine Entschuldigung; denn jeder bekommt eine Wahlbenachrichtigung zugeschickt und hat die Zeit, sonntags ins Wahllokal zu gehen und ein Kreuz zu machen. Die sozialdarwinistische AfD erzielt in der Emscherzone ihre stärksten Wahlergebnisse in ganz Deutschland, obwohl sie die Partei ist, in deren Programm der härteste Abbau des deutschen Sozialstaats verankert ist. Wie will man Leuten noch helfen, außer mit einer Therapie, denen es schlecht geht und die deshalb aus Protest die wählen, die auf sie draufhaut und noch mehr auf die, denen es noch schlechter geht? Wer Hartz IV bezieht und meint, die Ausländer würden ihm alles wegnehmen, bekommt doch mit der Streichung des Sozialtickets durch die schwarz-gelbe Landesregierung genau die Politik auf dem Silbertablett serviert, die er direkt oder indirekt gewählt und sich damit auch verdient hat! Wenn die Grünen, die sich für den Erhalt des Sozialtickets stark machen, im Duisburger Norden eine Splitterpartei sind, während die FDP selbst dort weit über die 5%-Hürde kommt: Tut mir leid, dann kann man Euch auch nicht mehr helfen! Dann müsst Ihr eben nächstes Mal Euch die Mühe machen, die ach so böse Verbotspartei wählen, gegen die Ihr im Netz dauernd wettert, statt dieser selbst ernannten Volkstribunen! Oder Ihr wählt die Linken, die Euch eigentlich schon oft und deutlich genug gesagt haben, dass sie sich für die Abschaffung der Hartz-Reformen stark machen, welche der eigentliche Grund für Euer Elend sind. Rot-Rot-Grün wäre die einzige Koalition, die wirklich etwas für Euch tun würde. Laschet setzt nur das um, was CDU und FDP beide vor der Wahl angekündigt haben: Straßen bauen für die anderen, ausgeglichener Landeshaushalt, aber weg mit den 40 Millionen Euro jährlich für Euch.
Gleiches gilt für die Erdogan-Anhänger. Nirgends in Westdeutschland haben so viele Briefwähler den türkischen Autokraten zum türkischen Staatspräsidenten gewählt und für seine Verfassungsreform gestimmt wie nördlich des Sozialäquators A40. Natürlich sollten die türkischen Einwanderer endlich mehr Wertschätzung in Deutschland erfahren und sind von der Mehrheitsgesellschaft über lange Zeit stiefmütterlich behandelt worden, und darüber sind sie zu Recht frustriert. Aber wie kann man, wenn man selbst alle Freiheiten einer Demokratie genießt, aus Wut oder falschem Nationalstolz seinen Landsleuten, die in der Türkei leben, diese Freiheiten vorenthalten wollen und ein autoritäres Regime unterstützen? Die deutschen Medien berichten täglich darüber, was sich wieder für die Bevölkerung verschlechtert und wie die Regierungsgegner drangsaliert werden – da ist jede Merkel-Regierung, trotz Fehlern in der Türkei-Politik, besser als dieser „starke Mann“, der sich mit Fake News zum Helden gegen Merkel und überhaupt gegen den Westen stilisiert. Erdogan ist ein Rechtspopulist mit islamischer Fassade, seine fremdenfeindliche und nationalistische Geisteshaltung ist die gleiche, unter der die AfD Euch leiden sehen möchte, nur mit türkischer Nationalfahne. Wer ernst genommen werden will und für sich eine andere Politik in Deutschland beansprucht, darf einen solchen Despoten einfach nicht wählen!
Es ist ehrenwert, wenn es einem selbst selbst gut geht, mit denen solidarisch zu sein, denen es weniger gut geht. Letztlich müssen aber die Schwachen die Solidarität annehmen, indem sie selbst die gleiche Mentalität politisch unterstützen – und das ist es, woran es in Deutschland fehlt. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Viele Sozialdemokraten fragen sich nicht zu Unrecht, warum sie eigentlich die Hartz-Reformen rückabwickeln sollen, solange die, die davon betroffen sind, sich ganz von der Politik und rationalen Argumenten abgewendet haben und auf „die da oben“, womit auf sie gemeint sind, blindwütig schimpfen und sich somit als zu umwerbende Wähler abmelden. Sie fragen sich, warum sie sich für die Abschaffung sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge einsetzen sollen, wenn viele junge Leute sich stromlinienförmig an dieses System anpassen, nach dem Motto: „Hauptsache, ich werde entfristet, die anderen sind mir egal“, und dann zu bequem sind, wählen zu gehen. Auch als Wähler hat man eine Bringschuld, man muss eine Win-Win-Situation ermöglichen: Die Parteien sollen etwas für sie tun, die Parteien brauchen Stimmen – also muss man den Interessen, die einem besonders am Herzen liegen, seine Stimme geben. Solange dieser Prozess nicht stattgefunden hat und mit diesem Bundestagswahlergebnis ist die Große Koalition für die nächsten vier Jahre immer noch der bestmögliche Kompromiss, damit das, was in unserem Land gut und stabil ist, auch die nächsten vier Jahre gut und stabil bleibt, statt achtlos eingerissen zu werden. Selbst der worst case, nämlich keine Bewegung wäre immer noch besser als eine Bewegung zum Schlechteren hin – um Lindner mit seinen eigenen Worten zu schlagen: Lieber nicht regieren als schlecht regieren. Oder um es mit der einst so coolen Werbeagentur Jung von Matt zu sagen, die mit ihrer Wahlkampagne für Merkel zur Speerspitze des Spießertums mutiert ist: Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. #fedidwgugl