Lesen bildet, Fluchen verrät: „Deutsche auf der Scheiße-Linie“
Gut, dass Sie das nicht lesen müssen! Nein, nicht diesen Artikel. Den müssen Sie natürlich auch nicht lesen. Können Sie aber ruhig machen. Obwohl. Garantieren kann auch ich freilich für nichts. Vielleicht werde nicht einmal ich um die Benutzung ganz, ganz fieser Wörter herumkommen. Wenn Sie also ganz auf Nummer sicher gehen wollen, klicken Sie lieber weg! Aus Leserbefragungen ist bekannt, dass hier in überwältigender Mehrheit gebildete, äußert stilvolle Menschen angesprochen werden, deren erhabene Stimmungswelt ich freilich nicht mit der Verwendung übelster Gossensprache in einen Schockzustand versetzen möchte. Sollten Sie also trotz dieses deutlichen Warnhinweises dennoch weiterlesen, sage ich nur eins: Vorsicht, Vorsicht!
Wie gesagt: Sie müssen es nicht lesen. Dieses Buch – meine ich natürlich. Ich zum Beispiel habe es auch nicht gelesen. Wie auch? Es erscheint doch erst in zwei Wochen, am 14. September 2012. Aber was man schon jetzt darüber weiß… – okay: Sie müssen es nicht lesen, ich muss es nicht lesen; aber besprechen muss ich es. Gerade weil die Leserschaft – ein gehobenes Bildungsbürgertum mit entsprechenden (also gehobenen) Ansprüchen dies mit Fug und Recht erwarten kann! Besagtes Buch hat nämlich Hans-Martin Gauger geschrieben, emeritierter Sprachwissenschaftler, 77 Jahre, ehemaliger Vizepräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Mitglied in Gremien namhafter Literaturpreise, FAZ-Literaturkritiker. Kurz: ein Muss für meine Leser wie für mich.
Na ja, was heißt schon Muss? Sie müssen das, wie gesagt, nicht lesen. Sie müssen gar nichts – außer dem, was Sie gegessen haben, womit wir beim Thema wären. Thema ist nämlich „Das Feuchte und das Schmutzige“, so der Titel Gaugers demnächst erscheinenden Werks. So, Sie haben jetzt die letzte Möglichkeit, sich auszuklicken. Jetzt wird es nämlich Ernst. Es geht los: Menschen haben leider, leider, leider… – schlimm, dass man so etwas sagen muss – die verdammenswürdige Angewohnheit, Gemütszustände erheblicher Frustration durch Fluchen bewältigen zu wollen. Schlimm genug, doch es kommt noch schlimmer: dabei, also beim Fluchen, pflegen sie Wörter zu gebrauchen, die, wenn sie drüber nachdächten, besser nicht gebrauchen würden. Das ist natürlich Scheiße, sowas!
Und jetzt das Allerschlimmste: auch ich selbst, wenn das bitte unter uns bleiben könnte, ertappe mich gelegentlich dabei, der Todsünde des Fluchens erlegen zu sein. Beispiel Mülltüte. Sie kennen das doch auch. Sie versuchen, so ein Ding über Ihren Mülleimer zu streifen, es von der Rolle abzureißen klappt noch ganz gut, aber dann… Ich feuchte mir sogar extra mit der Zunge ganz liebevoll Daumen und Zeigefinger etwas an, um sie leichter öffnen zu können, die Mülltüte. Aber sie will und will nicht! „Scheiß Mülltüte!“ rufe ich dann mitunter. Das ist natürlich sprachlich eine Regression ohnegleichen und, abgesehen davon, auch in der Sache ein wenig ungerecht. So eine Mülltüte kann ja nichts dafür. Schon als Kind hatte ich gelernt: „Schieb die Schuld nicht auf das Gummitier! Denn das Gummitier kann nichts dafür.“
Aber darum geht es hier nicht. Der Punkt ist, dass ich – zumal wegen so einer Kleinigkeit – „Scheiße“ gesagt habe. Oder „Scheiß“ – egal: das gehört sich nicht. Andererseits: es gibt Schlimmeres bzw. Schlimmere, zum Beispiel den beliebten Sänger von Unterhaltungsmusik namens Ozzy Osbourne. Die TV-Familienserie „The Osbournes“ konnte schon vor Jahren dokumentieren, wie der – an und für sich so sympathische – Sänger sich ebenfalls an das Projekt „Mülltüte über den Mülleimer ziehen“ machte und dabei ständig ausrief: „fucking trash bag!“ Das, liebe Leser, geht nun wirklich überhaupt nicht! Und abgesehen davon, auch in der Sache ist es völlig daneben. Zwar kann eine Mülltüte auch nicht einkoten, aber kopulieren… – ich bitte Sie!
Anfangs hatte ich dieses ständige Verwenden des Wortes „fucking“ für eine kleine Marotte des etwas exzentrischen Sängers gehalten, allenfalls noch für eine Sonderart der auf eine Insel verbannten Engländer. Bis ich jetzt in der neuesten Ausgabe des Spiegels* den Hinweis des renommierten Sprachwissenschaftlers Gauger lesen musste: „Fast alle Europäer, von den Portugiesen, über die Italiener bis hin zu den Russen, ziehen für ihre Vulgärsprache vorherrschend Sexuelles heran.“ Mein Gott, was sind die alle pervers! Im Klappentext des neuen Gauger-Buches heißt es: „Wenn wir Deutschen schimpfen, beleidigen, fluchen und überhaupt vulgär werden, verwenden wir normalerweise Ausdrücke, die sich auf Exkrementelles beziehen, während unsere Nachbarsprachen zu diesem Zweck fast immer ins Sexuelle gehen.“
Das ist ja unfassbar! Bei denen stimmt doch etwas nicht. Und das Allerschönste: das Ausland versucht uns, ausgerechnet uns, die wir so schön mit Scheiße und Kacke zu fluchen pflegen, auch noch einen Strick daraus zu drehen, dass wir selbst im Zustand einer gewissen Verärgerung uns immerhin noch so weit zusammenreißen können, dass wir nicht ins Sexuelle abgleiten. „Ein US-Wissenschaftler hat den Deutschen unterstellt, sie seien als Volk entwicklungspsychologisch in der analen Phase stecken geblieben“, erzählt Gauger im Spiegel *. „Aber das halte ich für böswillig.“ Allerdings.Anale Phase, wir Deutsche – eine Frechheit! Andererseits: irgendworan muss es ja liegen. So ganz kann es sich selbst Hans-Martin Gauger nicht erklären; aber eine Vermutung hat er dann doch.
„Hierzulande haben die Sprechenden seit langem, schon im frühen Mittelalter, nur diese eine Fährte verfolgt. Dabei sind sie geblieben, während sonst zweifährtig gearbeitet wurde, mit Vorzug fürs Sexuelle.“ Diese, wie Gauger sie selbst bezeichnet, „bescheidene Erklärung“ erklärt offensichtlich nichts. Es ist kaum anzunehmen, dass im zentral gelegenen Deutschland, wo in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts alle europäischen Nationen den 30jährigen Krieg führten, niemand aufgeschnappt haben oder auf die Idee gekommen sein könnte, dass die uns alle echt gefickt hatten. Wie auch immer: die Deutschen fanden es einfach nur Scheiße. Vielleicht ist es auch Geschmackssache, ob man lieber oder eben nicht lieber gefickt oder beschissen wird. Der Deutsche wird jedenfalls – schon traditionell – beschissen.
Der „Spiegel“ weist den Fachmann darauf hin: „Geschlechtliches derbe zu benennen ist und nicht fremd.“ – „Ja richtig“, antwortet Gauger, „es wird üblicher. Wobei das Zeitwort `ficken´ älteren Menschen wie mir besonders schwer über die Lippen geht.“ Gut, das muss man auch verstehen. Soziale Träger des Fortschritts sind nun einmal nicht die Alten, sondern vor allem jüngere Menschen. Junge Deutsche, die auf ein höflich formuliertes Ansinnen mit einem progressiven „Fick Dich!“ reagieren. Was die Frage aufwirft, die der „Spiegel“ dann auch folgerichtig stellt: „Ist es denn eine zivilisatorische Errungenschaft, mit sexuellem Vokabular ausfällig zu werden?“ – Antwort Gauger:„Jedenfalls ist es vielfältiger, weil sexuelle Ausdrücke sowohl Negatives als auch Positives bezeichnen können.“ Also Ja.
* Der Spiegel, Heft 35/2012 vom 27.8.12, Seite 41.