Schleswig-Holstein, Frankreich, Griechenland – Eine Wahlnachlese
Ach ja, in Serbien wurde ja auch noch gewählt. Nun ja, dafür konnte am letzten Spieltag der beiden Fußball-Bundesligen, wo es um Auf- und Abstieg ging, nicht auch noch Aufmerksamkeit aufgebracht werden. Die drei „wichtigeren“ Wahlen waren im Grunde schon zu viel. Dabei könnte es gut sein, dass der überraschende Sieg der serbischen Demokraten über die national-chauvinistische Opposition bedeutsamer gewesen ist als die hier zur Debatte stehenden Wahlergebnisse. Aber wie will man dies jemals feststellen können; kein Krieg ist keine Nachricht. Allenfalls im Falle eines Scheiterns von Ministerpräsident Tadic würde sich sagen lassen, dass es ziemlich egal ist, wer in Belgrad regiert. Dass die Kriegsgefahr auf dem (Westen des) Balkan keineswegs gebannt ist, gehört zu den am liebsten verdrängten Tatsachen; dabei stehen Bundeswehr-Soldaten immer noch vor Ort, um den brüchigen Frieden, besser: Waffenstillstand zu sichern. Einzig und allein die Hoffnung auf „Europa“ sorgt dafür, dass sich aus den kleineren, auf den hinteren Seiten der Zeitungen kurz vermeldeten Scharmützeln nicht ein neuerlicher Balkankrieg entwickelt.
Wahlen in Serbien. Was ist schon Serbien im Vergleich zu dem Ackerland zwischen Nord- und Ostsee? Was die Bedrohung durch einen Krieg direkt vor unserer Haustür gegen die Gefahr, die von einer „Dänen-Ampel“ ausgeht? Der CDU des nördlichsten Bundeslandes gebührt der Dank dafür, mit ihrer eindringlichen Warnung vor einer feindlichen Übernahme durch die Feinde im Norden den Rest der Bundesrepublik darauf aufmerksam gemacht zu haben, wie tief wohl auch heutzutage noch die Ressentiments gegen die Monarchie im skandinavischen Süden sitzen mögen, dass man mit so einem Scheiß Wahlkampf machen kann. Ein alter Sozialdemokrat berichtet, dass als er 1979 in den Kieler Landtag einzog, die Nazischergen noch den Naziopfern gegenüber saßen. Und hatte nicht dereinst der dänische König mit seinem Appell an seine Landsleute, den Judenstern zu tragen, dafür gesorgt, dass unsere deutschen Landser ihr Tagwerk in Dänemark mit dem niederschmetternden Ergebnis verrichten mussten, dass aus keinem anderen von den Deutschen besetzten Land weniger Juden in die osteuropäischen Gaskammern abtransportiert wurden? Und so Leute, also Dänen, wollen heute ein deutsches Bundesland mitregieren?!
Die Kieler Wahlnachlese ist kurz erzählt. Die Piraten hatten wieder einmal Erfolg. Die totgesagte FDP lebt hartnäckig weiter und wird es vermutlich in einer Woche in NRW genauso halten. Hier tritt ein Wunderknabe für die Liberalen an, der schon irgendwie so aussieht, als sei er der Sohn des schleswig-holsteinischen FDP-Vorturners. Die Linkspartei ist aus dem Landtag rausgeflogen und hat Recht mit der Einschätzung, dass sie den Abwärtstrend drehen könne, wenn es ihr gelänge, statt ausschließlich über sich selbst auch über politische Inhalte zu reden. Doch genau hier liegt für die West-Linken der Hase im Pfeffer. Für das parteipolitische Gefüge spielt dies indes keine große Rolle mehr; denn mit dem Erfolg der Piraten ist klar, dass weder für Rot-Grün noch für Schwarz-Gelb an eine eigene politische Mehrheit zu denken ist. Im Bund, in NRW könnte es Hannelore Kraft knapp schaffen – trotz Einzug der Piraten und der FDP in den Düsseldorfer Landtag. Zu jämmerlich ist die Performance ihres CDU-Widersachers Röttgen. Doch für die Bundestagswahl 2013 heißt das nicht viel. Denken wir daran, dass Olaf Scholz letztes Jahr in Hamburg gar eine absolute Mehrheit für die SPD geholt hatte.
Gegenwärtig ist an eine Regierungsmehrheit für Rot-Grün im Bund nicht zu denken. Selbst dann nicht, wenn die Piraten nicht furios, sondern nur mit Ach und Krach in den Bundestag einziehen sollten. Solange es die Piraten gibt, wird kein Sozialdemokrat Kanzler werden. Diese Tatsache der Piratenpartei anzukreiden, ist erstens hilflos und zweitens unnütz. Jörg Schönenborn hat in der Wahlberichterstattung gestern Abend bekannt gegeben, dass laut Infratest Dimap selbst fast jedem zweiten SPD-Wähler (!) eigenen Angaben zufolge nicht klar ist, wofür die SPD auf Bundesebene eigentlich stehe. Es gibt keinen Grund, an diesem Ergebnis zu zweifeln. Im Gegenteil: wer sich in den Ortsvereinen umhört, ist geneigt, diesen Befund auch auf die SPD-Mitgliedschaft zu erweitern. Auch wenn der Satz gilt, dass Oppositionsparteien nicht die Wahlen gewinnen, sondern Regierungsparteien die Wahlen verlieren können: es ist klar, dass bei fast 50 % Unklarheit – allein im eigenen Lager! – an einen Sieg nicht zu denken ist. Da können die Sozialdemokraten aufzählen, so viel sie wollen: Finanztransaktionssteuer, Mindestlohn, Ablehnung des Betreuungsgeldes, und, und, und … – solange die überwältigende Mehrheit Merkel bescheinigt, die Eurokrise gut zu managen, wird sie Kanzlerin bleiben.
Wenn die SPD wirklich Merkel ablösen will, wird es nur mit dem Versprechen eines Politikwechsels und nicht bloß eines Koalitionspartnerwechsels gehen. Der fatale Eindruck, die Regierung Merkel manage die Eurokrise gut, wird jedoch durch die Politik und die Außendarstellung der SPD begünstigt. Hier ist es höchste Zeit für einen Kurswechsel. Zugegeben: er wäre riskant. Nachdem so lange Zeit die Sparweisheiten à la schwäbischer Hausfrau als höchste Form staatlicher Wirtschaftspolitik unters Volk gejubelt worden sind, könnte die Zeit für das Umdenken bis zur nächsten Bundestagswahl etwas knapp werden. Doch erstens wäre die Alternative klar: Merkel bliebe im Amt – vielleicht mit der SPD als Juniorpartner, was der Partei den letzten Rest geben dürfte. Und zweitens setzt das Umdenken schon ein. Sogar auch in Deutschland. Finanzminister Schäuble erklärt in einem Focus-Interview, er befürworte kräftige Lohnsteigerungen, weil diese einen Beitrag zur Verringerung der verheerenden ökonomischen Ungleichgewichte in Europa liefern könnten. Und Sigmar Gabriel beschreitet im Grunde längst den neuen Kurs, wird aber noch von seinen Konkurrenten Steinmeier und Steinbrück dabei gebremst.
Der Wahlsieg Hollandes über Sarkozy sollte Gabriel im innerparteilichen Ringen Auftrieb geben. „Historisch“ nennen ihn die Wähler der Sozialisten in Frankreich, und nicht nur sie. Dabei ist nicht mehr passiert, als dass ein konservativer Präsident durch einen Sozialdemokraten abgelöst wurde. Das ist für sich genommen genauso wenig historisch wie die „Dänen-Ampel“ zwischen Wattenmeer und Ostsee. Doch dass mit dem Wechsel in Frankreich Merkels einseitige Sparpolitik durch expansive wirtschaftspolitische Elemente ergänzt werden wird, was die Kanzlerin im übrigen bereits angekündigt hat, ist schon bemerkenswert. Hollande wird keine große Wende bringen – in Frankreich nicht, und schon gar nicht in ganz Europa. Diejenigen, die diesbezüglich euphorisch sind, sollten sich an die Wahl Mitterands vor gut dreißig Jahren erinnern. Begeisterung allerorten, auch bei den Grünen, die am gleichen Tag ins Berliner Abgeordnetenhaus einzogen. Als Mitterand ein Jahr später im Bundestag redete, um für die „Nachrüstung“ Reklame zu machen, blieb von den sozialistischen Träumen nicht mehr viel übrig. Mit Hollande löst ein Sozialdemokrat diesen Sarkozy ab – nicht mehr und nicht weniger. In der jetzigen Situation Europas ist dies jedoch eine ganze Menge.
Das Wahlergebnis in Griechenland hat vor Augen geführt, was passiert, wenn ein Volk mit einer Kaputtsparpolitik Brüningschen Ausmaßes überzogen wird. Es wählt dann eben genauso wie die Deutschen nach Brüning. Fast genauso. Denn im Gegensatz zu den Wahlgängen am Ende der Weimarer Republik haben die Griechen mehrheitlich nicht rechts-, sondern linksradikal gewählt. Während die Nazipartei, die in Athen den vierten Platz erreicht hat, sich selbst als nationalsozialistisch bezeichnet und ihre Versammlungen mit dem Hitlergruß eröffnet und beschließt, ist die linkssozialistische Partei, die auf Platz Zwei gekommen ist, in keiner Weise mit der republikfeindlichen KPD der Weimarer Zeit zu vergleichen. Sie ist nicht einmal kommunistisch; die KP ist eigenständig angetreten und ebenfalls ins griechische Parlament eingezogen. Darüber hinaus ist die Gleichsetzung von Kommunisten und Nazis ohnehin wissenschaftlich wie politisch völlig daneben. Die einzige, allerdings entscheidende Parallele besteht darin, dass beide Seiten die Integration Griechenlands in Europa ablehnen. Es ist dem griechischen Wahlrecht geschuldet, dass Konservative und Sozialdemokraten mit ihren zusammen 35 % der Wählerstimmen über eine knappe Parlamentsmehrheit verfügen.
Lässt sich ein allgemeines Fazit aus all den gestrigen Wahlen ziehen? Im Grunde nicht. Europa hangelt sich so durch, ließe sich vielleicht sagen. Für die Sozialdemokraten gilt: je weniger sie als solche erkennbar sind, desto schlechter schneiden sie bei Wahlen ab. Félicitations Présidente Hollande!