Arbeitslosigkeit, Agenda 2010 und das deutsche Wachstumsmodell
Zahl der registrierten Arbeitslosen unter drei 3 Millionen – ein Kommentar
Arbeitsministerin von der Leyen ist gestern schon einmal vorgeprescht. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ist unter die magische Drei-Millionen-Marke gefallen. Da konnte sie einfach nicht anders. Wie unsensibel! Dafür hätte sie doch ein Feeling haben müssen. Dafür, dass so etwas nicht gut ankommt. Also: ihr vorwitziges Vorpreschen. Nicht etwa das Unterschreiten der Marke. Nun ja, so kann es gehen. Ich bin nicht immer ganz so spitze, wie ich denke. Frau von der Leyen ist nicht einmal so super, wie sie immer tut. Da gehört schon etwas zu: sich einen solchen dummen Faux-pas zu erlauben – in der ihr eigenen herrenmenschlichen Aussprache und Diktion. War wohl nix …
Ansonsten: die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt verläuft unerwartet gut. Sehr gut. Keine Frage, wie an dieser Stelle gewiss Gerhard Schröder ergänzt hätte. Keine Frage. Die Arbeitslosigkeit unter drei Millionen. Das ist schon etwas. Ja, ich weiß: nach Berechnungen des IAB, des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, liegt die Zahl der Arbeitslosen etwas über vier Millionen. Das IAB sitzt in Nürnberg und ist gleichsam die Forschungseinrichtung der Bundesanstalt für Arbeit. Folglich gibt es unter Berücksichtigung der in Warteschleifen Befindlichen, der Minijobber, einiger faktischer Frührentner u.a. mehr als vier Millionen Arbeitslose in Deutschland. Ganz offiziell. Und rechnet man die sog. „stille Reserve“ noch hinzu, kommt man auf eine noch höhere Zahl.
Nur: man muss sich schon entscheiden, ob man die vermeintlich nach unten manipulierte Arbeitslosenquote kritisieren möchte, oder die am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, die nach wie vor unter dem Begriff „Hartz IV“ diskutiert wird. Vor inzwischen knapp sechs Jahren sind nämlich auf einen Schlag sämtliche arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen worden, so dass es unlauter wäre, die vom IAB dargestellten, in der Hauptstatistik aber nicht erfassten gut eine Million Erwerbslosen als Indiz für eine Manipulation der Statistik anzuführen, während man gleichzeitig die früher in keiner (offiziellen) Statistik Erfassten verschweigt.
Nein, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt verläuft, wie gesagt, unerwartet gut. Sicheres Indiz dafür ist weniger die Zahl der Arbeitslosen als die der erwerbstätigen bzw. der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Auch das gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsvolumen ist bis knapp an seinen historischen Höchststand gestiegen, was nach der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte bemerkenswert ist. Und sollten wir uns nicht nach, sondern – wie nicht wenige Fachleute zu bedenken geben – noch mitten in der Krise befinden, umso bemerkenswerter.
Auch m.E. zu Recht werden an dieser Stelle die vielerorts unhaltbaren Zustände im deutlich ausgeweiteten Niedriglohnsektor kritisiert. Dass ich nicht nur gegen kriminelle Machenschaften bin, sondern auch gegen ganz legale, aber doch völlig skrupellose Ausbeutung, versteht sich. Ich bin für einen für alle Branchen verbindlichen gesetzlichen Mindestlohn. Gleichzeitig gebe ich zu bedenken, dass ohne den Niedriglohnsektor das gegenwärtige Beschäftigungsvolumen nicht zu halten ist. Es kommt also schon auf die Höhe des Mindestlohns an. Der Zeitpunkt immerhin wäre günstig. Denn auch die Binnennachfrage legt zu, die Tariflöhne werden steigen, und es werden weiter Arbeitskräfte gesucht.
Doch man würde der „linken“ Kritik auf den Leim gehen, wollte man das gegenwärtige deutsche „Jobwunder“ allein mit dem Niedriglohnsektor und der vermeintlichen Manipulation der Arbeitslosenstatistik erklären. Ohne die – wenn auch in Deutschland ein wenig zögerlich angelaufenen – Konjunkturprogramme und vor allem ohne die spezifisch deutsche Kurzarbeiterregelung sähe die Situation auf dem Arbeitsmarkt heute ganz anders, nämlich viel schlechter aus.
Und, ob es einem passt oder nicht: ohne die sog. Agenda-Politik, also ohne die von Schröder 2003 verkündete und von den Medien so genannte „Agenda 2010“ bleibt das heutige „Jobwunder“ völlig unerklärlich. Wir schreiben jetzt das Jahr 2010; insofern trifft der Begriff ja punktgenau zu. Was mich selbst betrifft: ich kann eine Reihe von Zeugen dafür benennen, dass ich bereits einige Jahre vor 2003 ein überzeugter Vertreter der später sog. Agenda-Politik war. Und auch heute halte ich diese rot-grüne Reformpolitik im Rückblick im wesentlichen für richtig.
Was ich niemals für richtig gehalten hatte, war die – man muss schon sagen – radikale Steuersenkungspolitik der rot-grünen Regierung, insbesondere zugunsten der Finanzkonzerne, und die damit einhergehende Liberalisierung der Finanzmärkte. Allerdings werden diese verheerenden Fehler i.d.R. nicht mit unter den Begriff „Agenda 2010“ gefasst. Diese Dinge waren Verirrungen im „neoliberalen“ Zeitgeist; man kann nicht einmal sagen, dass diese milliardenschweren Steuergeschenke an die Allianz und die Deutsche Bank unter dem Druck der Großkonzerne zustande gekommen seien. Diese konnten vielmehr ihr „Glück“ über dieses Ausmaß an „Großzügigkeit“ selbst kaum fassen.
Diese Verirrung nimmt den rot-grünen Jahren nicht wenig von ihrem Glanz. Jedoch: die Agenda-Politik und auch die Arbeitsmarktreformen waren notwendig und auch im Großen und Ganzen richtig. Dass es vor allem bei der von Anfang an heftig umstrittenen „Hartz-IV“-Reform nicht nur zu „handwerklichen“ Fehlern, sondern auch in ihrem Gefolge zu einer folgenschweren gesellschaftlichen Fehlentwicklung gekommen ist, werde ich demnächst in einem gesonderten Beitrag eigens darlegen.
Tatsache ist, dass man an der Agenda-Politik und den sog. „Hartz-Reformen“ nicht vorbeikommt, wenn man die politischen Ursachen des gegenwärtigen deutschen Jobwunders benennen will. Und diese politischen Maßnahmen erklären durchaus einen relevanten Teil der heutigen Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Allerdings: den kleineren Teil des deutschen „Jobwunders“. Der größere Teil ist dem – deutschen ! – Wirtschaftsaufschwung geschuldet, also dem vornehmlich exportgetriebenen Wachstum.
Auch wenn inzwischen die „Konsumneigung“ steigt, die Binnennachfrage anzieht und in den kommenden Tarifrunden auch die Löhne und Einkommen steigen werden, darf man sich nichts vormachen: das deutsche Wachstumsmodell steht und fällt mit der Exportindustrie. Ich habe kürzlich in einer kleinen Artikelserie darauf hingewiesen, dass dieses Wachstumsmodell ohnehin extrem krisenanfällig ist (weshalb der BIP-Rückgang in Deutschland auch wesentlich stärker ausgefallen ist als in allen anderen Industriestaaten und Deutschlands BIP immer noch nicht ganz das Vorkrisenniveau wiedererlangt hat).
Im gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Umfeld hat das deutsche „Jobwunder“ alle Züge einer großen Illusion.