20 Jahre Deutschland einig Vaterland: Born again
„Worüber wollte ich eigentlich schreiben“, sinnierte ich letztes Jahr leider erst am Ende eines Artikels. „Ach ja, die Wiedervereinigung. Na, nun ist es dafür auch zu spät. Also nächstes Jahr am 3. Oktober. Da passt es auch besser. Sie wissen schon: nein, nicht Loveparade (die war dann schon), der runde Geburtstag. Ich freue mich jetzt schon.“
Kleiner Hinweis, weil der Artikel doch schon ein Jahr alt ist. Das war Ironie, bittere Ironie, Sarkasmus, Zynismus. Ich freue mich nämlich überhaupt kein bisschen. Ich hatte mich vor zwanzig Jahren nicht gefreut, ich habe mich vor einem Jahr nicht gefreut, und ich freue mich jetzt nicht. Um ehrlich zu sein: mir wird bei dem ganzen Affentheater körperlich schlecht.
Es ist für einen – zumindest halbwegs – normalen Menschen kaum noch auszuhalten, was sich in diesem unseren Lande seit einigen Tagen mit merklich ansteigender Tendenz abspielt und jetzt unvermeidlich seinem sonntäglichen Höhepunkt entgegenstrebt. Seit Tagen schon kann es nicht mehr gelingen, sich im Fernsehen eine Nachrichtensendung anzusehen, ohne vorher – und wenn man nicht rechtzeitig ausschaltet auch nachher – von einem dieser Trailer belästigt zu werden.
Hier ein Spielfilm über die Stasi, da eine Dokumentation über die Stasi. Aber natürlich auch bis zum Überdruss Bürgerrechtler und Freiheitskämpfer. Und dann die Zeitungen! Gut, man muss nicht die Bildzeitung lesen: „So ergreifend feierte die CDU ihren Kanzler der Einheit“. Aber die WAZ, die habe ich nun einmal im Abo. Und wissen Sie, was die heute gemacht hat. „Kein Witz, echt passiert“ (Mario Barth): die hat, weil es so schön war, ihre Titelseite vom 3. Oktober 1990 heute (!) noch einmal als Titelseite gebracht.
Als sozusagen „echtes“ Titelblatt dann, auf Seite 3, über dem Umbruch ganz viele Farbfotos von Kindern, die in den letzten Jahren als vermisst gemeldet worden sind. Denn trotz alledem: das Böse gibt es auch hierzulande immer noch. Zugegeben: Dass Kinder Opfer von Sexualmördern wurden, gab es auch schon vor den Jahren 1989 / 90 und übrigens – allen Statistiken zufolge – in weit größerem Ausmaß. Und doch „wäre in der guten alten Zeit, da noch getrennt war, was nie wieder hätte zusammenwachsen sollen, unvorstellbar gewesen“ (Gremliza).
Zum Beispiel dieses kaum verhüllte faschistische Gequatsche einer Erika Steinbach, auf die sich dieses Zitat hier bezog. Oder die große Zustimmung des gesunden Volksempfindens für die Rassenlehre eines Thilo Sarrazin, wozu derselbe Gremliza bereits im letzten November alles gesagt hatte, was folgenlos bleiben muss, wenn die Bildzeitung – wie in diesem Sommer geschehen – eine Riesenkampagne auflegt und vom „Spiegel“ dabei wohlwollend begleitet wird.
Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel die Toten, die seit der Wiedererlangung der nationalen Einheit zu beklagen sind, weil allein ihre Hautfarbe auf einen „Migrationshintergrund“ verwies – der modische Begriff für das, was früher „Nicht-Arier“ hieß. Oder der Umstand, dass auch unter den 20 Prozent der Deutschen, die Umfragen zufolge nicht vom deutschen Rasseglauben à la Sarrazin infiziert sind, es weitgehend tabuisiert wird, auf das Risiko, das mit einem Deutschland einig Vaterland in der Mitte Europas verbunden ist, auch nur hinzuweisen.
Ich erwarte ja gar nicht, dass man meine Auffassung teilt, dass es sich dabei um ein unkalkulierbares Risiko handelt. Ich wäre schon zufrieden, wenn aus Anlass des 20. Jahrestages der Wiedervereinigung versucht würde, nüchtern Bilanz zu ziehen, welche Rolle dieses Deutschland bei den entscheidenden weltpolitischen Ereignissen in diesen beiden Jahrzehnten gespielt hatte.
In den Jugoslawien-Kriegen, in den Anschlägen vom 11. September, in der – vielleicht noch nicht beendeten – Weltwirtschaftskrise, in der – gewiss noch nicht beendeten – Euro-Währungskrise. Darüber könnte man ja mal diskutieren, ganz demokratisch-pluralistisch. Eine Meinung so, eine andere so. Nun ist schon dies im glücklichsten Volk der Welt nicht ganz so ohne weiteres möglich. Diese Themen aber gar in einen Zusammenhang zu stellen mit der schönen Wiedervereinigung: ein Frevel.
Doch noch schlimmer, um damit auch zum Schluss zu kommen, als dieses ständige Deutschland- Deutschland-Gedröhne sind die Ostdeutschen. Integrationsunwillige Wirtschaftsflüchtlinge der übelsten Sorte. Stellen wir uns einen kurzen Moment vor, was passiert wäre, wenn z.B. während der sog. „Sarrazin-Debatte“ die auch von den 20 Prozent relativ gutwilligen Deutschen angemahnte Integrationsbringschuld ein Einwanderer z.B. aus der Türkei mit der rotzigen Bemerkung „Besserwisser“ gekontert hätte.
Dass hingegen der verknatschte Durchschnittsossi, der nicht im Traum daran denkt, dass Kategorien wie Leistung und Gegenleistung sein Verhältnis zur alten Bundesrepublik bestimmen sollten, auf jede Kritik an der Subventionierung seines Misserfolgs mit dem Schimpfwort „Besserwessi“ meint, reagieren zu müssen, animiert seine westlichen Blutsbrüder nicht etwa dazu, ihm umgehend die Alimente zu streichen, sondern vielmehr dazu, sich selbst beschämt zu prüfen, ob man nicht die armen Brüder und Schwestern aus dem Osten etwas zu rabiat geschluckt habe.
„Stellen wir uns einen kurzen Moment vor, was ohne die Demonstrationen in der damaligen DDR passiert wäre. Ohne, dass die Menschen in immer größeren Gruppen aufgestanden wären und sich gegen das Regime gestellt hätten“ schrieb der Kollege Stefan Meiners gestern an dieser Stelle. Träumen erlaubt! „Vermutlich gäbe es die DDR heute noch“, glaubt Stefan, was ich für absolut ausgeschlossen halte, aber hier nicht die Frage ist.
Ich frage mich vielmehr, wie man allen Ernstes zu der Annahme gelangen kann, die Wiedergeburt der deutschen Nation erkläre sich mit ein paar Tausend Leuten, die den Idealen der kürzlich verstorbenen Kunstmalerin hinterhergelaufen sind. Liegt es daran, dass sich der Mythos von der friedlichen Revolution mit den subalternen Subjekten, die angedroht hatten, zur D-Mark hinzugehen, falls diese nicht zu ihnen komme, nur schwerlich aufrecht erhalten lässt?
Um nicht missverstanden zu werden: das Ableben der DDR geht auch nicht auf diese Verlierertypen zurück, die heute kaum eine Fernsehsendung ungenutzt lassen, um zu erklären, wie sehnlich sie sich den Mief der guten alten Honecker-Republik zurücksehnen. Dass der Sowjetsozialismus am Ende war, dafür gibt es ein ganzes Bündel anderer Gründe, z.B. diesen: eine Internetadresse www.ernst-thaelmann-kombinat.ddr kann nicht funktionieren.
Dies ist kein Grund, traurig zu sein. Dass infolgedessen jetzt mitten in Europa 80 Millionen wirtschaftlich starke Deutsche ihr irrationales Unwesen treiben, ist dagegen ein Grund zur Sorge. Mindestens. Wer trotzdem lieber jubeln möchte, sage mir bitte warum!