Brauchen wir einen Sarrazin?
Das jetzt erschienene 12. Buch des Thilo Sarrazin machte schon Furore zu dem Zeitpunkt, als es noch gar nicht zu kaufen war. BILD und SPIEGEL überboten sich mit Vorabdrucken. Allein durch diese Werbung und dem damit verbundenen Buchkauf soll Sarrarzin schon mal knapp 160000 Euro verdienen, meint BILD.
Gehts ihm um Kohle? Wohl kaum. Sarrazin ist aufgrund seiner politischen Tätigkeiten und seines derzeitigen Jobs bei der Bundesbank bestens versorgt. Selbst bei einer, eher unwahrscheinlichen, Kündigung seines Beschäftigungsverhältnisses mit der Bundesbank, muss er keinen Absturz ins finanziell Bodenlose fürchten. Geld kann es also allein nicht sein, was diesen Mann dazu bringt, derzeit Deutschlands umstrittenster Bürger zu sein. Sein Buch wird keine literarische Offenbarung sein. Es wird einen Reich-Ranicki nicht von seinem rota Sofa fallen lassen vor Begeisterung. Aber es wird ein Bestseller werden, so viel dürfte klar sein.
Ist es seine Lust und der Reiz an der Provokation? Viele unterstellen ihm dies. Denn er reizt Freunde und Gegner gleichermassen. Und alle tapsen unaufhörlich in die Sarrazin-Falle. Er polarisiert, er beschreibt die, aus seiner Sicht der Dinge, Probleme in einer direkten und schnörkellosen Art, er stellt Fragen, die viele nie zu fragen gewagt hätten, stellt Thesen auf, die ganze Religionsgemeinschaften auf die Barrikaden bringen—und doch: hat er auch viel Zuspruch. Klar, das der offene Zuspruch zu seinen Thesen aus der rechten politischen Ecke kommt. Dort wird ihm mittlerweile gehuldigt als einem, der sagt, was das Volk schon lange denken würde.
Ist er also ein Rechter, ein Rechtspopulist? Nach aussen hin nicht. Er ist Mitglied der SPD und will es ungeachtet, der Forderungen nach Ausschluss aus der Partei, auch bleiben. Er ist politisch nicht aktiv und kann von daher keine seiner Behauptungen auch nur ansatzweise selbst in politische Gesetzesvorhaben einbringen. Aber seine Macht ist eine andere. Er redet und schreibt für eine große schweigende Menge, die hinter vor gehaltener Hand schon immer seiner Meinung waren. Ihn zu unterstützen ist unpopulär und kann unangenehme Folgen haben. Aber in der Anonymität des Internets stimmen ihm viele Menschen zu. Erstaunlich sind die vielen Kommentareinträge in den verschiedensten Foren von Blogs und Zeitungen. Unter einem Nicknamen versteckt, offenbaren sich dort eine große Reihe von LesernInnen als AnhängerInnen seiner Thesen und Anschauungen. Und wer sein Buch kaufen möchte, braucht auch nicht dazu in den nächsten Buchladen zu gehen. Das Internet macht auch das “Nicht-Outen” problemlos möglich.
Und sind nun alle, die im beipflichten, zwar anonym aber immer öfter, Nazis oder Rassisten? Auch das wäre zu kurz gegriffen. Zuerst einmal müssen wir davon ausgehen, gerade wir LeserInnen von politischen Blogs, das es noch eine große Menge an Menschen gibt, die schlicht und einfach mit Politik nichts am Hut haben. Denen Begriffe wie “Links” und “Rechts” zwar geläufig sind, deren inhaltliche Bedeutung ihnen aber völlig unbekannt ist. Menschen, die ihre eigenen Erfahrungen und Probleme auf Parteien projezieren, von denen sie annehmen, das sie dort erhört werden. Die sich aber auf der anderen Seite die Programme der einzelnen Parteien nie angesehen haben. Die sozusagen eine Art von gefühlter politischer Lebensweise führen, ohne sich tiefer in diese Materie einlassen zu wollen. Und bei solchen Menschen setzen “Vordenker” wie ein Thilo Sarrazin an. Dort fallen seine Thesen auf einen fruchtbaren Acker. Und dort wirkt ein Sarrazin gefährlich ein.
Ohne, auf Sarrazins teilweise abstrusen Gedanken näher eingehen zu wollen, ist es aber wichtig, seine Wirkung auf einen großen Teil der Deutschen zu betonen. Für viele von denen, spricht er aus, was sie denken. Und spätestens ab diesem Zeitpunkt muss Politik wieder aktiv werden. Nicht, indem sie Sarrazin verdämonisiert und ihn damit für seine geistigen Unterstützer noch wichtiger macht, vielmehr in dem, das sich Politik mit seinen aufgestellten Welterklärungen inhaltlich und offensiv auseinandersetzt.
Unbestritten gibt es in den Ballungszentren, wie dem Ruhrgebiet oder auch in Berlin, große Integrationsprobleme. Unkenntnis herrscht auf beiden Seiten vor. Mann/Frau bleibt da lieber unter sich. Das gegenseitige Unverständnis wächst unaufhörlich und die Ansichten über den jeweils anderen festigen sich zusehends. Hier muss der erste Ansatz erfolgen. Gegenseitiges Kennenlernen ist dafür eine Basis. Denn was man nicht kennt, bleibt einem fremd. Und genau da zeigt sich das jahrelange Versagen der Parteien im Umgang mit dem großen gesellschaftspolitischen Thema Integration. Deutschland ist de facto ein Einwanderungsland geworden. Allerdings eines, ohne einen dafür gemachten Masterplan. Jede Partei kochte und kocht zu diesem Thema ihr eigenes, partei-ideologisches, Süppchen. Und die Grauzonen, die durch diese inkonsequente Politik entstanden, wissen rechte Gruppierungen und auch islamistische Organisationen für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Die vor-Ort-Betreuung der ausländischen Mitbürger wird vielfach durch private Initiativen oder kirchliche Einrichtungen übernommen. Zu besonderen Anlässen lassen sich dann auch die Politiker sehen, alle einbezogen von den Linken, über die SPD, bis hin zu CDU/CSU und FDP. Danach verschwinden sie wieder in ihre jeweiligen Wahlkreise oder Parlamente in der Hoffnung, allein durch blosse Anwesenheit und geschliffene Reden Probleme gelöst zu haben.
Die Sorgen der BürgerInnen, aller BürgerInnen gleich welchem Ursprungs, sind nicht mehr länger zu ignorieren und auf Sonntagsreden abzuhandeln. Integration darf nicht mehr allein ein Thema für Berufspolitiker und Berufssoziologen sein. Denn sie haben schlicht und einfach versagt. EIN runder Tisch zum Thema AusländerInnen in Deutschland reicht nicht aus zur Lösung dieser Problematik. Denn auch dort treffen sich seit Jahren stets die gleichen Protagonisten. Verstärkte Bemühungen müssen bereits auf kommunaler Ebene weiter vorangetrieben werden. Unbestritten ist es, das gerade die einzelnen Kommunen dieses Thema ernsthaft auf ihrer Agenda haben. Aber sie stossen immer mehr an ihre Grenzen. Das Integration ein vielschichtiges Problemthema ist, bleibt Fakt. Und das alle davon Betroffenen sich weiter öffnen müssen ebenso. Und ein Patentrezept zur Lösung der Probleme wurde bisher noch nicht geschaffen.
Aber wir können wichtige Weichenstellungen vornehmen. Nicht nur Integrationsbeauftragte müssen her, vielmehr sollten entsprechende eigenständige Ministerien dafür landesweit erschaffen werden zur Bündelung der fachlichen Ressourcen. Eine Beschleunigung bei Einbürgerungen muss erfolgen. Viele ausländische MitbürgerInnen rennen diesem ersehnten Ziel viel zu lang hinterher. Der Abbau der Bürokratie auf diesem sozialen Feld muss rascher von Statten gehen. Der Ghettoisierung muss entschiedener entgegengewirkt werden durch vielschichtige Angebote im zwischenmenschlichen Bereich. Und damit das “Zwischenmenschliche” auch praktisch klappt, muss das Angebot an sprachlicher Schulung deutlich und vernehmbar ausgebaut werden. Was spräche u.U. denn dagegen, für interessierte Deutsche einen Türkischkurs für wenig Geld anzubieten? Zumal tausende von denen jährlich gen Antalya und Istanbul reisen? Und einige von diesen Touristen lesen aus Überzeugung Sarrazin.
Initiativen auf allen Seiten müssen her. Die jetzigen scheinen offensichtlich nicht ausreichend zu sein. Aufklärung über den jeweils anderen tut Not, im Sinne von Wahrheit schafft Klarheit. Staat und Kirche können diese Aufgabe allein nicht bewältigen. Jede/jeder ist gefordert an dieser Arbeit mitzuwirken. Besonders die Menschen, die über die jeweils “anderen” schimpfen und voller Vorurteile belastet sind. Auch das sollte für alle gelten, Deutsche wie ausländische Mitbürger. Bestimmte Klischees, die es gegenseitig gibt, sind das Ergebnis von Unkenntnis. Auch hier gilt es anzusetzen. Ebenso bei der Freiheit des persönlichen Glaubens und der damit einhergehenden Lebensform. Schlichtweg gegenseitigen Respekt. Und auch mal dem Kumpel beim Bier abends in der Kneipe widersprechen, wenn er seine Stammtischparolen los lässt. Courage zeigen, gerade in dieser sensiblen Frage, ist gefordert.
Für alles erwähnte brauchen wir keinen Sarrazin. Seine Rezepte sind schlecht, sind ungeniessbar, sind populistisch. Wer diesen Mann nicht mehr sehen, lesen oder hören will, braucht nur gegen die eigenen Vorurteile an zu kämpfen. Dann werden Sarrazinsche Thesen so unsinnig wie sonst etwas. Das ein Aufheizer bei einem solch empfindlichen Thema wie reinstes Gift wirkt, sollte uns bewusst sein. Einer Lösung des Problems bringt uns auch ein Sarrazin nicht näher. Vielmehr vertiefen Menschen wie er die Gräben zwischen den einzelnen Kulturen und ihren Menschen. Und wohin uns der systematische Hass auf Minderheiten bringen kann, hat uns die Geschichte des 20. Jahrhunderts aufs eindringlichste und brutalste gezeigt.