Annette Schavan – Verirrung in der Doktorarbeit
„Wer sich verteidigt, klagt sich an.“ Weiß der Geier, wer von uns Straßenjungs diese „Weisheit“ wo und von wem aufgeschnappt hatte. Es war die Zeit Anfang der 1960er Jahre; wir waren Vorschul- bzw. Grundschulkinder. Ich kann mich daran erinnern, dass es üblich gewesen war, dass wenn einer von uns sich gegen massive Kritik der Gruppe wehrte, ihm stets diese „Weisheit“ entgegengehalten wurde: „Wer sich verteidigt, klagt sich an.“ Das war freilich nicht nur ziemlich bescheuert, sondern auch extrem gemein. Denn dem zu Recht oder zu Unrecht Beschuldigten wurde faktisch jegliche Gelegenheit genommen, sich für sein Verhalten zu rechtfertigen. Dabei muss man sich vergegenwärtigen: erstens waren die Voraussetzungen, die Notwendigkeit und die Erfordernisse der damaligen Gewissensbildung aus heutiger Sicht nicht eben optimal, lagen doch – wie wir Deutsche sagen – die düsteren Zeiten nicht einmal zwanzig Jahre zurück. Will sagen: unsere Eltern waren durch eine Zeit geprägt, in der Rechtsstaatlichkeit, Individualität, Normabweichung oder auch „nur“ Humanität nicht gerade besonders hoch im Kurs standen. Zweitens: Kinder können grausam sein.
Ich weiß: das ist ein Zitat; man entschuldige mir an dieser Stelle die plagiierende Vorgehensweise. Heute sind wir deutlich aufgeklärter. Wir wissen: wer sich verteidigt, klagt sich nicht etwa an, sondern verteidigt sich. Basta! Und jeder, wirklich jeder, hat ein Recht darauf, sich zu verteidigen. Gewiss, dies sei der Vollständigkeit halber bemerkt: verteidigt sich jemand, der überhaupt nicht angegriffen wurde, setzt er sich unnötigerweise dem Verdacht aus, in der von ihm angesprochenen Sache etwas auf dem Kerbholz zu haben. In diesem Fall, aber auch nur in diesem Fall, mag am Dummejungenspruch „Wer sich verteidigt, klagt sich an“ etwas dran sein. Eine ziemliche Eselei, die aber, wie wir aus dem Alltag oder aus (schlechten) Krimis wissen, tatsächlich hier und da ansonsten recht intelligenten Menschen unterlaufen kann. Manchmal spielt halt einfach das Gewissen – oder wie wir Freudianer sagen; das Über-Ich – der betroffenen Person nicht so mit. Ebenso wenig hilfreich wie eine unnötige Verteidigung, vielleicht sogar noch schädlicher, ist eine unkluge, mithin schlechte Verteidigung. Schlecht ist eine Verteidigung – wie jede Argumentation – insbesondere dann, wenn sie das Thema verfehlt.
Heute berät der Promotionsausschuss der Philosophischen Fakultät an der Universität Düsseldorf über die Promotion der Bundesministerin für Bildung und Forschung. Annette Schavan hatte vor gut 30 Jahren eine Dissertation über das Thema „Person und Gewissen“ an der Düsseldorfer Uni eingereicht. Im Dezember 2011 wurden auf VroniPlag Plagiatsvorwürfe erhoben, die jedoch eine Mehrheit der Mitarbeiter der Rechercheplattform für nicht gravierend genug hielt, um den Vorgang zu veröffentlichen. Dennoch hatte Schavan die Promotionskommission gebeten, die Vorwürfe zu prüfen. Diese beauftragte Stefan Rohrbacher, einem Professor für Judaistik, mit der Angelegenheit. Sein vertrauliches Gutachten wurde dem Spiegel zugespielt, der vorgestern in seiner jüngsten Ausgabe aus dem Papier zitierte. Es ist ohne Frage eine Ungeheuerlichkeit, dass ein Mitglied des Promotionsausschusses zu einem Zeitpunkt, als Schavan selbst nicht einmal das Rohrbacher-Gutachten kannte, den Text der Presse zugespielt hat. Es ist angemessen, dass die Uni Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet hat. Über Annette Schavan und ihre Doktorarbeit sagt dieser ungeheuerliche Vorgang allerdings nichts aus.
„Ich habe sorgfältig gearbeitet. Hier und da hätte man auch noch sorgfältiger formulieren können“, erklärte Schavan kürzlich zu den Zweifeln an ihrer Dissertation. Ein geradezu klassisches Beispiel für eine unkluge, mithin schlechte Verteidigung. Denn einmal ganz abgesehen davon, dass sie ihre Selbsteinschätzung „sorgfältig gearbeitet“ wohl kaum wird aufrecht erhalten können, kratzt man sich bei dem, was folgt, etwas ratlos am Kopf. „Man hätte auch noch…“ – Du liebe Güte! Ja, wo denn? – „…hier und da…“ – Ja, was denn? – „…sorgfältiger formulieren können“. Na sicher; man hätte formulieren können „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Ist es doch nicht einmal den ganz Großen unter den ganz Großen vergönnt, ihren Texten nicht attestieren zu müssen, dass sie hier und da auch noch sorgfältiger hätten formuliert werden können. Man wundert sich; doch die heutige Forschungsministerin klärt uns über ihre Empfindungen zu Jugendzeiten auf: „Heute merke ich zum Beispiel, dass ich damals bei Freud noch ziemlich verdruckst war.“ Wir verstehen: die ehemalige Vizepräsidentin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken und heutige Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung „Bibel und Kultur“ hatte sich in jungen Jahren bei Freud noch etwas geziert.
Ob Annette Schavan tatsächlich geglaubt hatte, mit solch einem Käse die gegen sie erhobenen Plagiatsvorwürfe vom Tisch wischen zu können? Es ist, wie gesagt, ungeheuerlich, dass das Gutachten zu ihrer Dissertation an den Spiegel durchgestochen wurde. Doch nun ist es einmal so, und alle elektronischen und Printmedien haben den entscheidenden Satz zitiert. Er lautet: „Eine leitende Täuschungsabsicht ist nicht nur angesichts der allgemeinen Muster des Gesamtbildes, sondern auch aufgrund der spezifischen Merkmale einer signifikanten Mehrzahl von Befundstellen zu konstatieren.“ Zugegeben: das ist das Fazit eines Gutachtens, Andere mögen zu anderen Ergebnissen kommen. Doch Stefan Rohrbacher ist nicht irgendwer, vielmehr gilt Deutschlands führender Judaist, der übrigens von 1997 bis 2002 Professor an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg war, als wissenschaftliches Schwergewicht. Zur Stunde tagt der Promotionsausschuss; eine Entscheidung über Schavans Promotion wird heute gewiss nicht fallen. Der Uni Düsseldorf ist kein Vorwurf zu machen; keine Menschengruppe ist vor dem Verräter in den eigenen Reihen gefeit.
Annette Schavan kann man keinen Ratschlag geben; denn sie hat sich bereits entschieden. „Ich werde kämpfen“, sagt sie, was auch allein schon deshalb verständlich ist, weil eine Aberkennung ihres Doktortitels unweigerlich ihre Entlassung als Ministerin nach sich zöge. Sie stünde – nach mehr als 30 Jahren – als Akademikerin und vor allem als Politikerin vor den Trümmern ihres Lebenswerks. Es ist klar, dass ihre vermeintliche Schummelei bei der Dissertation in keiner Weise mit dem in seinen Ausmaßen vermutlich bis heute nicht vollends erfassten Betrug Karl-Theodor Guttenbergs zu vergleichen ist. Auch deshalb ist der sich abzeichnende Absturz Schavans nicht ohne Tragik. Sie wird kämpfen. „Das bin ich mir schuldig, und das bin ich der Wissenschaft schuldig.“ Warum sie es „der Wissenschaft“ schuldig sein sollte, erschließt sich mir nicht so ganz. Dass sie es sich selbst schuldig ist, unmittelbar. Die Ausgangssituation für ihren Kampf könnte besser sein. An Rohrbachers Gutachten wird, gerade weil es veröffentlicht ist, nicht so ohne Weiteres dran vorbeizukommen sein. „Jedenfalls weiß ich“, konzedierte Schavan im Fall Guttenberg, „dass, wer viele Jahre an seiner Doktorarbeit sitzt, sich darin auch verirren kann“.